Das Märchen von A. Alt und B. Bau
3. September 2008
erzählt
Eduard Zetera
Es war einmal vor nicht all zu langer Zeit ein kleines Dorf in einem kleinen Land. Dort, wo das Dorf war, war das Land am schönsten: nirgendwo sonst waren die Blätter der Bäume grüner, nirgendwo sangen die Vögel schöner und nirgendwo dufteten die Rosen wundervoller. In diesem kleinen Dorf lebten zwei Männer – Alfred Alt und Balduin Bau – viele Jahre in ihren kleinen Häuschen in trauter Eintracht nebeneinander in der Dorfstraße.
Nun begab es sich eines Tages, dass Alfred Alt im Garten seines Nachbars Balduin Bau Handwerker beobachtete, wie sie Gräben bis an den Zaun aushoben und Betonfundamente gossen. Zuerst dachte er sich nichts dabei. Einige Tage später aber fingen die Handwerker an, auf den Fundamenten Wände zu errichten, die immer höher in den Himmel wuchsen. Da wunderte sich Alfred und fragte Balduin, was das denn werden solle. „Ach, nichts besonderes,“ sagte der, „nur ein kleiner Anbau an mein Haus.“
Inzwischen waren die Wände an Alfreds Zaun fünf Stockwerke hoch. Sein Garten versank in tiefem, dunklem Schatten, seine Bäume warfen ihre Blätter ab, seine Rosen verwelkten und die Vögel verließen diese Einöde. Im Dorf hatte sich das herumgesprochen und alle Leute kamen, um sich Balduins Anbau anzuschauen. Manche sagten, der Anbau sei wohl sehr groß geraten. Einige meinten, Balduins Haus sei ein „Sonderling“ unter den Häuser des Dorfes geworden. Der eine oder andere dachte sich gar, so etwas dürfe überhaupt nicht gebaut werden. Und alle hatten Mitleid mit Alfred, dessen Garten nun so unwirtlich geworden war.
Alfred war mit dem Bau von Balduin nicht einverstanden. Er meinte, der dürfe nicht so hoch und nicht so nah an seinem Grundstück sein. Er sprach Balduin an, doch der wiegelte ab: Alles entspräche den Vorschriften und sei so vom Amt genehmigt. Also wandte sich Alfred an den Dorfältesten, um den Streit zu schlichten. Der dachte lange, sehr lange nach und meinte schließlich auch, dass Balduin weder so hoch noch so nah an Alfreds Garten bauen dürfe. Der Anbau – inzwischen weit fortgeschritten – könne so nicht stehen bleiben. Der Dorfälteste stellte Balduin zu Rede.
Nun, liebe Kinderinnen und Kinder, an dieser Stelle wird die Geschichte etwas kompliziert. Es ist nicht genau bekannt, wie sie zu Ende geht. Erzählt werden drei unterschiedliche Varianten.
Variante 1: Balduin meint, er könne den Anbau nicht wieder abreißen, weil darin seine Kinder und Enkel wohnen sollen. Alfred erwidert darauf, dass dann aber wiederum seine Enkel nicht mehr in seinem Garten spielen könnten.
Variante 2: Balduin meint, er könne den Anbau nicht wieder abreißen, weil er darin eine Fabrik einrichten wolle, in der viele Bewohner des Dorfes Arbeit fänden. Alfred erwidert darauf, dass Balduin wiederum sein Geschäft so auf Kosten seines Nachbarn betreibt.
Variante 3: Balduin meint, er könne den Anbau nicht wieder abreißen, weil er schon zu viel Geld gekostet hat – und außerdem seien von Alfreds Bäumen ohnehin schon alle Blätter abgefallen, seine Rosen schon verdorrt und auch alle Vögel seien schon aus seinem Garten geflohen. Darauf weiß Alfred nichts zu erwidern.
Zugegeben, die letzte Variante klingt etwas unglaubwürdig. Das gibt es nicht einmal im Märchen. So etwas gibt es – wenn überhaupt – nur im richtigen Leben.
Im übrigen ist nicht bekannt, ob Balduin seinen Anbau schließlich abgerissen hat oder nicht. Wenn er ihn denn abgerissen hat, dann ist Alfreds Garten sicher wieder in alter Pracht erblüht und sie lebten in trauter Eintracht bis ans Ende ihrer Tage. Wohl aber nur dann.