Die Zeit ist weg
24. Januar 2009
Wer Bibliotheken für Träger des kollektiven Gedächtnisses unserer Gesellschaft hält, ist zumindest was die SLUB (Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden) anbelangt, ganz nah an der Wirklichkeit dran: Wie es sich für ein ordentliches Gedächtnis gehört, stellen sich auch hier kleine aber feine Lücken im Erinnerungsvermögen ein.
Zwei Beispiele:
Die Zeit ist weg
Ein interessierter Leser wollte sich dieser Tage in der SLUB die Ausgabe 45/2008 der „Zeit“ wegen der hinlänglich kommentierten Anzeige der Landeshauptstadt anschauen. Nachdem in der Auslage die Zeitung nicht zu finden war, fragte er nach. Bereitwillig machte sich eine Mitarbeiterin auf die Suche und wurde fündig: Die „Zeit“ ist auch digital verfügbar – nur eben ohne Werbung. Pech für unseren Leser. Die aufmerksame Mitarbeiterin meinte daraufhin, da müsse sie wohl mal im Archiv nachschauen. Nach einiger Zeit kam sie etwas verstört zurück mit der Nachricht, dass genau diese Ausgabe nicht vorhanden sei.
Ob da nun zuvor schon ein anderer Leser seine Sammelleidenschaft nicht zügeln konnte, wissen wir nicht. Aber ärgerlich ist der Vorfall allemal. Auch für die SLUB.
Da mag es insofern ein Trost sein, dass das Internet weniger vergesslich scheint. Zumindest von dieser WebSite ist die Anzeige noch nicht gemaust worden.
Ein Buch im „Giftschrank“
Das Buch „Das System Biedenkopf : der Hof-Staat Sachsen und seine braven Untertanen oder: wie in Sachsen die Demokratie auf den Hund kam ; ein Report.“ von Michael Bartsch ist in der SLUB nicht ausleihbar. Es gehört zum Magazinbestand.
Was kann das bedeuten?
- Das Buch erscheint der SLUB zu wertvoll für die freie Ausleihe. – Unwahrscheinlich für ein gut 200seitiges Paperback-Bändchen.
- Es erscheint der SLUB zu brisant, als dass es zu leicht zugänglich gemacht werden sollte. – Schwer einzuschätzen; aber Brisanz besitzt das Buch sehr wohl: Es berichtet von einem Landesübervater, dessen politisches Handeln seinen selbst formulierten Ansprüchen stets Hohn sprach und der schließlich zur tragischen Gestalt wurde, als seine eigenen Parteifreunde ihn vom Thron holten. Vom Sockel haben sie ihn gleichwohl nie geholt und die Lücke zwischen hehrem Anspruch und demokratischer Wirklichkeit klafft heute noch immer so weit wie ehedem. So hat das Buch, obwohl bereits 2002 erschienen, nichts an Aktualität eingebüßt.
- Das Buch interessiert kaum einen und verschwindet deshalb im Magazin. – Denkbar. Die Dresdner (und die Sachsen) sind bemerkenswert apolitisch. Das kann man beklagen, man muss es aber zuerst einmal anerkennen. Auch über diese Ursache des sächsischen Demokratiedefizits könnte der Leser dieses Buches einiges lernen … aber hier beißt sich die Katze in den Schwanz.
Alarmismus?
Nun sollen die beiden genannten Fälle weder überbewertet noch verallgemeinert werden. Dennoch lösen sie unangenehme Assoziationen aus: Es ist wohl nicht das erste mal, dass Bibliotheken in Dresden ihre Leserschaft vor Gedankengut schützen möchten, welches sie all zu sehr verstören könnte. Und wir leben in einer Zeit, in der unser Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gerade seinen nächsten Schritt in Richtung Überwachungsstaat unternimmt.
Der ungehinderte (und nicht überwachte) Austausch von Gedanken ist einer der Grundpfeiler unserer offenen, freiheitlich demokratischen Gesellschaft. Wer daran sägt, stellt sie in Frage.