Das chinesische Jahrhundert
26. Januar 2009
Ein Zwischenruf
von Johannes Hellmich
Der polytechnisch ausgebildete Oberschüler erlebte mit dem Verschwinden seiner real existierenden Erfahrungswelt vor allem eines: die massenhafte Auflösung scheinbar eherner Gesetze, nach denen Natur und Gesellschaft auf geheimnisvolle Weise organisiert zu sein schienen. Zu den letzten Fixpunkten weiterer Navigationsversuche gehörte zweifellos die Lehre vom Erhalt der Energie – ein dem Schüler zunächst unnütz erscheinender Glaubenssatz, der seine tröstliche Wirkung erst im Laufe späterer Umbrüche des so genannten wirklichen Lebens entfalten konnte.
Als rastloser Wanderer zwischen den Welten durfte der frisch gebackene Neubundesbürger zuerst Zeuge eines einmaligen Entsorgungsprozesses werden und dann Mitgestalter eines ebenso gewaltigen Aufbauwerkes. War er bisher um die Früchte seiner Arbeit von einer unfähigen Politikerkaste offenkundig betrogen worden, so schien der Lohn für seine Mühen jetzt auf wundersame Weise in Form von Transfermilliarden zurückzukehren. Das spornte an. Die Erfolge machten stolz. Der Einklang mit dem Kosmos war vorläufig wieder hergestellt.
Jener Aufbauwille, der sich im ostdeutschen Musterländle unter der Obhut einer fürsorglichen Partei bis heute gedeihlich fortsetzt, bedarf gleichwohl der Einordnung – insbesondere im Interesse weiterer Entwicklungshilfe. Gibt es also Vorbilder für die sächsische Erfolgsgeschichte? Die vergleichende Völkerkunde zieht für Untersuchungen von Hochkulturen gern die vornehmsten Zeugnisse der Architekturgeschichte heran: Großprojekte, welche die Organisation gewaltiger Menschenmassen und Geldsummen voraussetzen, beschreiben kulturelle Leistungen auf das Anschaulichste.
Wer nun die jüngsten Fortschritte am Jahrhundertbauwerk Waldschlößchenbrücke objektiv-distanziert, aber doch wohlwollend verfolgt, dem drängen sich Parallelen auf, die weit in Raum und Zeit zurückreichen. Das eindrucksvolle Beispiel sächsischen Gestaltungswillens – welches nur bei missmutig gesonnenen Zeitgenossen zuweilen noch Unverständnis oder gar Widerspruch auslöst – steht mitnichten isoliert in der Architekturgeschichte der Völker: China, das Reich der Mitte, schuf vor Jahrhunderten ein Bauwerk, das ebenfalls völlig zu Unrecht zum Synonym für scheinbar sinnlose Gigantomanie wurde: Die Große Chinesische Mauer.
Es ist viel darüber spekuliert worden, warum Volk und Führung Chinas an einem offensichtlich nutzlosen Vorhaben über viele Generationen hinweg festhielten. Erst der Prager Schriftsteller Franz Kafka kam den tieferen Gründen für jenen umstrittenen Mauerbau wirklich nahe. Gerade die schleichende Abtrennung des Bauwerks von einem zunächst vorgefassten profanen Zweck (nämlich der Abwehr von Barbaren-Angriffen aus dem Norden) ermöglichte die Überführung in eine transzendente Sinngebung: Die Realisierung eines großartigen Gemeinschaftswerkes, das aufgrund seiner scheinbaren Nutzlosigkeit eine tiefe Verbindung, ja eine Art Komplizenschaft zwischen Kaiser und Volk schuf und Grundlage einer langen Stabilitätsphase des Reiches wurde. Zweckgebundene Bauten, wie der babylonische Turm, waren schon damals warnende Beispiele: großartige Tempel wurden regelmäßig von Andersgläubigen zerstört, Grabstätten geplündert. Die weise Führung der Chinesen aber lehnte es – hier sind die sächsischen Herrscher noch etwas zögerlich – irgendwann ab, einen praktischen Nutzen der tausende Kilometer langen Mauer weiter zu verfolgen. Weder als Aussichtsplattform, noch als architektonische Leistung, noch eben als Schutz (Barbaren-Angriffe waren schon länger vor Beginn des Mauerbaus rückläufig) sollte sie vorderhand dienen, ja nicht einmal als Standortinvestition hätte sie gelten können. Nein, China galt sich selbst als Mittelpunkt der Welt. Paradox, aber gerade das Offenhalten einer letzten Absicht wurde zum Erfolgsgeheimnis der Großen Mauer.
Die Chronik der Vorgeschichte zum Bau der Großen Chinesischen Mauer ist heute nicht mehr zu entwirren. Der einfache chinesische Bauer hatte gelernt, der Klugheit des Kaisers zu vertrauen und leistete mit Freude seinen Beitrag. Gesichert scheint nur, dass ursprünglich auf die Bitte eines Dorfes an der nördlichen Reichsgrenze um Schutz vor Übergriffen umherziehender Räuberbanden der zuständige Minister die Idee einer gewaltigen Mauer hatte. Überliefert ist der Ausruf: „Wir bauen diese Mauer oder keine!“
Zahllose Skeptiker und Defätisten gab es selbstredend auch im alten China. Unter den Anführern der Baukolonnen kursierte die Weisheit: Kaiser kommen und gehen, ganze Dynastien verschwinden; diese hässliche, unnütze Mauer aber wird bleiben und eines Tages vielleicht zu den Weltwundern zählen.
Daran denke ich, wenn Brückengegner den drohenden Verlust des Welterbes beklagen. Es wird sich auch bei uns alles zum Guten fügen in Mitteldeutschland in Mitteleuropa unter der Führung der Partei der Mitte. Bis dahin heißt es abwarten und Tee trinken. Das chinesische Jahrhundert hat längst begonnen.