Krise? Welche Krise?
5. Februar 2009
Johannes Hellmich
zur Dresdner Situation
zwischen Welterbestreit
und Wahlmarathon
Endlos winden sich die Autoschlangen im Schrittempo an Dresdens bekanntester Baustelle vorbei. Hier auf der Nordseite herrscht nach einer kurzen Winterpause wieder Betriebsamkeit. Gewaltiges Bohrgerät kämpft sich unaufhörlich ins Erdreich; Eile ist geboten, zuviel Zeit hat man schon verloren. Dass an dieser Stelle vor Jahresfrist in einem absurden Schauspiel Polizisten gegen Umweltaktivisten vorgegangen sind, lässt sich räumlich nur mit Mühe vorstellen. Heute nimmt vom Geschehen hinter den Absperrzäunen kaum jemand mehr Notiz. Lange her ist es auch, dass die Junge Union Kaffee und Stollen an die Arbeiter verteilte. Letzte Kompromissaufrufe der Welterbefreunde aus aller Welt sind ebenfalls ungehört über den zerfurchten Elbwiesen verhallt, die jetzt winterliche Tristesse dürftig bedeckt. Manchmal klären ältere Herrschaften ihre angereisten Verwandten vor Ort über jenen rätselhaften Streit auf. Vereinzelt werden Fotos gemacht für digitale Bilderhalden auf heimischen PCs.
Vielleicht steigt das Interesse am Bau im Frühjahr wieder, aber für die kommenden Wahlkämpfe scheint das Thema vorerst erledigt. Die politischen Akteure werden sich bemühen, das leidige W-Wort zu vermeiden. Konservative verzichten seit Monaten auf allzulautes Frohlocken. Vielleicht spüren manche, mit Brücke und Titelverlust langfristig einen Pyrrhussieg errungen zu haben. Vielleicht auch glauben sie fest und still an einen diplomatischen Erfolg ihrer Oberbürgermeisterin. Indes meinen Teile des linken Lagers, den Konflikt abhaken und nach vorne sehen zu müssen, denn die Stimmungslage vieler Bürger scheint klar. Sie sollen nicht mit unrealistischen Forderungen verschreckt werden. Sachsens Presse hat den Schlussstrich zum Thema längst gezogen und ist in die journalistische Unverfänglichkeit zurückgekehrt: Dresden – ein rauschendes Fest vor barocker Kulisse. Und dennoch: Dresdens Politiker könnten erneut die Beharrlichkeit unterschätzen, mit der die Bürgerinitiativen eine Zerstörung des Elbtals noch immer zu verhindern hoffen.
Nur ein Wunder könne das Welterbe noch retten, hört man gelegentlich. Damit rechnet freilich niemand mehr. Im Gespräch ist das eher als höfliche Bitte gemeint, das Thema zu wechseln. Eine überraschende Wendung ist nach dem Scheitern der letzten Welterbeanträge in Stadtparlament und Landtag nur noch von juristischer Seite zu erwarten. Aber auch da verheißen die bisherigen Entscheidungen aus Sicht der Welterbefreunde nichts Gutes.
Nach den gerichtlichen Verfahren waren die Enttäuschungen für viele besonders bitter. Das juristische Tauziehen um Waldschlösschenbrücke, Welterbe und das Bürgerbegehren Tunnelalternative hat das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz nachhaltig erschüttert. Es scheint, als würden diejenigen bestätigt, die in der langjährigen Alleinherrschaft der sächsischen Union während des Aufbaus rechtsstaatlicher Strukturen eine kaum korrigierbare Weichenstellung für die problematische Verquickung der drei Gewalten sehen. Zählt man den Unionseinfluss auf die öffentlich-rechtlichen Medien, die Wirtschaftskammern und -verbände hinzu, ergibt sich eine Machtkonzentration, die vieles zu erklären scheint.
Dass weder ein offenbar bis in kleinste Verästelungen ausbalanciertes politisches Regelwerk noch die, wie manche meinen, beste Rechtssprechung der Welt eine befriedigende Antwort auf eine Konfliktsituation wie den drohenden Welterbeverlust finden, lässt manchen die Frage nach der Sinnhaftigkeit des demokratischen Prinzips als Ganzes stellen.
Aber wie kann es weitergehen? Schließen sich die vermeintlich Unterlegenen des jahrelangen Streites dem Trend zur Stimmverweigerung als letztmöglicher Protestform an? Kann der Welterbegedanke auch nach Verlust des Titels in anderer Form weitergetragen werden? Auch ein drittes wäre denkbar: Wird sich am Ende, wie manche hoffen, eine künstliche Aufregung einfach legen und nach einigen Jahren vergessen sein?
Alle drei Optionen können nicht wirklich dem erlebten Eingriff in eine Fülle bürgerlicher Bindungen gerecht werden, die der Begriff Zuhause nur ungenügend beschreibt. Es gehört zu den häufigen Missverständnissen, dass die Welterbeerhalter ein statisches Heimatverständnis verteidigen würden; das Gegenteil ist der Fall. Für die meisten ist das Welterbeengagement eher ein nach-Hause-finden. Für sie wird eine überfällige Wertediskussion geführt. Die Bereitschaft, hinzunehmen, dass hyperaktive Aufbauhelfer allerletztes Brachland mit Investruinen und Parkhäusern befrieden, scheint für viele endgültig erschöpft. Als Erklärung für die Härte des jahrelangen Streites reicht dies allerdings nicht.
Welche adäquate Auflösung des Konfliktes ist also denkbar? Beide Seiten haben während aller Eskalationsstufen den Welterbestreit immer wieder auch zu einer Kontroverse über das jeweilige Demokratieverständnis des Gegenübers gemacht. Naturgemäß diejenige Partei besonders heftig, die in der Auseinandersetzung Boden zu verlieren drohte. Was vielleicht eher als Delegitimierungsargument gedacht war, traf dennoch einen zentralen Aspekt. Fragen nach dem eigenen Demokratieverständnis und eine offensive Auseinandersetzung mit der demokratischen Situation in Sachsen können deshalb auch die Option sein, die perspektivisch eine angemessene Antwort auf eine bisher unversöhnte Situation in Aussicht stellt. Hier lassen sich die Instrumente für eine faire Bewertung und Einordnung des Konfliktes finden. Aber wie wird diese Demokratie im Jahr der Gedenkfeierlichkeiten fassbar jenseits der Proklamationen?
Der Befund ist ernüchternd und reicht weit über die Welterbeproblematik hinaus. Zum verlorengegangenen Vertrauen in Rechtsstaat und Institutionen kommt hinzu: Es hat bekanntermaßen für viele von Beginn an nicht bestanden. Ein unpopulärer, gleichwohl gewichtiger Grund für diese Unbehaustheit darf durchaus im Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 gesehen werden. Auf eine verfassungsgebende Meinungsbildung in Gesamtdeutschland wurde damit verzichtet. Darauf hinzuweisen bleibt nötig angesichts einer erschreckenden Geschichtsglättung, wie sie die Union mit ihrem Strategiepapier „Geteilt. Vereint. Gemeinsam. Perspektiven für den Osten Deutschlands“ von Ende letzten Jahres vorantreibt. Auch wenn ehemalige DDR-Bürger 1990 andere Sorgen hatten, als sich im Vereinigungstaumel mit staatsrechtlichen Fragen zu beschäftigen, auch wenn der Verzicht auf die Schaffung einer gemeinsamen Verfassung in den Augen vieler damals die richtige Entscheidung in einer Krisensituation gewesen sein mag; die langfristigen Folgen waren fatal: Demokratische Strukturen wurden hastig installiert wie die Filialen der Kaufhausketten; oft genug mit dazugehörigem Personal.
Wer sich heute also darüber beklagt, dass in den neuen Ländern Zustimmung und Verinnerlichung von demokratischen Werten auf niedrigem Niveau stagnieren oder zurückgehen, muss sich fragen, wann und wie gesellschaftliche Teilnahme erlernt werden konnte. Bei der Besetzung von Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und öffentlich-rechtlichen sowie privaten Medien gab es offenbar nur wenig Vertrauen in das Potential der hiesigen Bevölkerung. Antworten auf Fragen, die der Neubundesbürger noch gar nicht gestellt hatte, waren längst erteilt. Gesellschaftlicher Gestaltungswille, der bereits in der untergegangenen DDR von einer Staatsführung vornehmlich aus Angst verhindert wurde, war auch bei den neuen Herren wenig gefragt.
Anlass zur Zuversicht gibt es dennoch. Das Grundgesetz mag aufgrund schwerer Versäumnisse der Wiedervereinigung bei vielen Neubundesbürgern bis heute nicht nicht angekommen sein. Das förderale Pendant genügt durchaus den Vorstellungen demokratischer Legitimation. Bedauerlich bleibt zwar, dass die Sachsen über diese Landesverfassung nicht direkt abstimmen konnten. Die hehren Staatsziele, die sie formuliert, sind der Bevölkerung nahezu unbekannt geblieben. Wer sich die Verfassung des Freistaates genauer anschaut, wird leicht eine bemerkenswerte Modernität feststellen. Nicht wenige Welterbefreunde werden von der Willensbekundung der Präambel zur Bewahrung der Schöpfung überrascht sein. Ökologische und kulturelle Ausrichtung der Artikel 1, 10 und 11 tragen die Handschrift tief verstandener Verantwortung. Hier gibt es eine erhebliche Chance: Mit Blick auf eine inhaltlich und intellektuell erschöpfte Union, die die Bevölkerung seit Jahren auf ein sachsentümelndes Zusammengehörigkeitsgefühl einschwört, um eigene Macht zu zementieren, wirken die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Freistaats fast subversiv. Diese Verfassung darf ruhigen Gewissens empfohlen werden als Fundament eines erneuerten demokratischen Engagements. Den Verfassungsanspruch in Verfassungswirklichkeit umzusetzen, sollten die Bürger zunehmend selbstbewusst einfordern.
Weiterentwicklungen schließt das freilich nicht aus. Das Verhältnis von repräsentativer Demokratie und direktdemokratischen Elementen bedarf unvoreingenommener öffentlicher Aufklärung und Diskussion. Es wird an dieser Stelle über die vielfältigen Formen von Mehrheitsbestimmungen zu berichten sein.