Der Apparatschik auf dem Balkon
11. Oktober 2009
Ein Zwischenruf von
Eduard Zetera
Stanislaw Tillich hat nie von sich behauptet, ein Widerstandskämpfer gewesen zu sein. Insofern ist er sich treu geblieben. Gleich, welche Version seiner Vita man betrachtet: sie besagt, dass er im Verwaltungsapparat der Deutschen Demokratischen Republik seinen Platz gefunden hatte. Wenn man ihn also als einen Apparatschik bezeichnet, hat er keinen Grund, zu widersprechen. Beteuern wird er allemal, dass er nur ein kleines Rädchen im großen Getriebe war, während mancher ihn zu den tragenden Säulen des DDR-Systems rechnet.
Bei letzteren wird Stanislaw Tillichs Erscheinen auf diversen Feierlichkeiten in Sachsen zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution ein gewisses Unbehagen auslösen. Wenn er den Fall der Mauer lobpreist, bleibt wohl immer ein schaler Beigeschmack zurück. Er war es gewiss nicht, der den ersten Stein aus diesem Bauwerk zog. Vielmehr gehörte er zum Kitt in dessen Fugen. Gleichwohl steht es ihm zu, in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident den Mauerfall als den Glücksfall in der jüngsten Geschichte Sachsens zu würdigen. Aber das bitteschön nur in Sachsen. Hier bekleidet er sein Amt. Nirgendwo sonst.
Wenn Stanislaw Tillich es sich dennoch nicht nehmen lässt, zur Feier des berühmtesten Halbsatzes von Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft aufzutreten, dann ist das ein Akt von geradezu erlesener Instinktlosigkeit. Nein, das ist nicht sein Platz. Mit den Vorgängen seinerzeit in Prag hat er rein gar nichts zu tun. Das ganze Gegenteil ist der Fall. Das ist ihm selbst wohl weit weniger bewusst gewesen als den anwesenden Pressevertretern: Beim Fototermin drängte er sich derart in den Vordergrund, dass er erst mit wiederholten Sprechchören („Tillich weg!“) in das Innere der Botschaft vertrieben werden konnte.
Dennoch handelt es sich bei alledem um einen wohl kalkulierten Fehltritt. Stanislaw Tillich verlässt sich darauf, dass das historische Kurzzeitgedächtnis der Nation gerade mal bis vorgestern reicht und hofft, dass so die Verdienste eines Hans-Dietrich Genscher oder Rudolf Seiters um die deutsche Wiedervereinigung ein klein wenig auch mit seiner Person assoziiert werden. Er erinnert so fatal an die Dresdner Oberbürgermeisterin, welche um die begrenzte Strahlkraft ihrer Person weiß und glaubt, dass sich ein wenig vom Glanz des amerikanischen Präsidenten auf sie überträgt, wenn sie ihm den Füllhalter zur Unterschrift im Goldenen Buch der Stadt reichen darf.
Wenn das Bild nicht so tragisch wäre, man könnte es fast komisch finden.
Zum Weiterlesen und Staunen: Bilder aus Prag, Der Spiegel zur Fragebogen-Affäre