Wenn es zum Ausflocken kommt
17. Oktober 2009
von Johannes Hellmich
Die Blätter wurden nicht versengt,
die Zweige nicht gebogen.
Der Tag ist klar gewaschen wie Glas.
Aber das ist zu wenig.
Arsenij Tarkowskij
Zum Schluss umarmten sich Bürgerpräsident und Künstlerrevolutionär auf der Bühne des Leipziger Gewandhauses. Der Festakt des Freistaates am 9. Oktober war eben mit Klängen aus der Befreiungsoper Fidelio zu Ende gegangen, die Feierlichkeiten zum runden Jubiläum der friedlichen Revolution, die nicht Wende genannt werden soll, geschafft. Angeregte Stimmung nach einer stürmisch gefeierten Rede des Bündnisgrünen Werner Schulz. Mit prägnanter Leidensmiene hatte der Schamane den Geist von neunundachtzig noch einmal heraufrufen können. Selbst beim MDR glaubte man für einen Moment: Die Revolution geht weiter. Erst die Verbrüderungsszene von Horst Köhler und Kurt Masur brachte beruhigende Gewissheit: Im Jahre einundzwanzig nach dem Fallout kann der sächselnde Berufsnörgler niemanden mehr erschrecken.
Es war ein Geniestreich der Festtagsregie; Werner Schulz hat sich offenkundig nicht angepasst. Er ist der kantige Bürgerrechtler geblieben, im Gegensatz zu vielen seiner einstigen Mitstreiter. Wenige hätten es vermocht, der Veranstaltung die erhoffte Tiefe zu geben. Wohltuend hob er sich ab von den peinlichen Phrasen bemühter Betroffenheit seiner Vorredner. Mit einer reichen, klaren Sprache machte er die nervigen Auftritte von Rößler und Köhler vergessen. Nur selten überzog er, wenn Kerzenwachs statt Blut floss oder die Demonstranten protestantisch-diszipliniert blieben. Einmal suchte er den akademischen Schulterschluss: Die Lösung war gesättigt; es kam zum Ausflocken. Die Naturwissenschaftlerin in der ersten Reihe durfte lachen. Rhetorisch blieb er brillant, manchmal witzig.
Werner Schulz habe dennoch niemanden geschont, hieß es später. Aber: Stimmt das? Die Schelte für Tillich der Ordensverleihung wegen, war das mutig? Nach fast zwanzig Jahren deutscher Einheit von der lieben Angela Merkel auf dem kurzen Dienstweg eine gemeinsame Verfassung zu erbitten, war das demokratischer Stil? Wer ist sich, gerade in den neuen Ländern, des verfassungsrechtlichen Schwebezustands bewusst und wen stört dieser Malus? Ist nicht das der eigentliche Skandal? Wächst die Zustimmung zur Demokratie, wenn ein Bundespräsident wie Horst Köhler direkt gewählt wird? Tosender Applaus für Werner Schulz kam auch von den Mächtigen. Das macht die Brisanz seiner Rede aus, denn Schulz fiel das Formulieren der Kernbotschaft dieses Gedenktages zu. Hier gab es die seltene Chance einer authentischen Bilanz über die berechtigte Freude der gewonnenen Freiheit hinaus. Die Erwartung an Schulz gerade derer, für die der Aufbruch in die errungene Demokratie nicht mit der Einführung der D-Mark zu Ende war, durfte und musste hoch sein. Werner Schulz hat diese Chance nicht genutzt.
Wenn du geschwiegen hättest,
wärest du ein Philosoph geblieben.
Boëthius
Bürgerrechtler haben ihren Platz in der Wohlfühlpolitik einer gehobenen Mittelschicht längst eingenommen. Mit seiner Rede hat Werner Schulz dem kümmerlichen Wohlstandshedonismus sächsischer Provenienz den Segen erteilt. Entscheidend dafür war nicht die Bittstellerei um Demokratisierung, sondern das abgelegte Glaubensbekenntnis eines gemeinsamen Abscheus vor aller sozialistischen Utopie: Gleichsetzung eines verendeten, lächerlichen DDR-Regimes mit jedweden Idealen gesellschaftlicher Veränderung in Schulz’ Rede, der sogenannte Staatsbankrott, zu dem sich die Linke gefälligst bekennen soll und die Preisgabe einer Friedensforderung ohne Ansehen der Person. Heute stehen wir im Krieg und Bündnisgrüne haben längst das staatstragende Argumentationsrepertoire übernommen, das schwierige Fragen zum Frieden leicht erklärt. Friedensgebete, aus denen sich einst Widerstand gegen realsozialistische Macht bildete; abgelegt als naive Folklore einer vergangenen Zeit. Dieser dreifache Kotau von Werner Schulz vor der (so apostrophierten) letzten Volkspartei – das ließ das Auditorium im Gewandhaus jubeln. Irrationaler Antikommunismus ohne Kommunisten ist seit Jahrzehnten bürgerliches Erfolgsrezept. Fein, dass nun auch Werner Schulz die Terminologie eines paranoiden Freund-Feind-Schemas übernommen hat. Wer auf dem schmalen Grat zwischen Totalitarismen beiderseits seinen Weg sucht, sollte nicht hoffen, das eine mit dem anderen Übel bekämpfen zu können. Bis zu Irving Kristols Credo „A liberal mugged by reality“ (Ein Liberaler, der von der Wirklichkeit überfallen wurde), das auch den deutschen Gesellschaftsdiskurs zum Stillstand gebracht hat, ist es dann nur ein kleiner Schritt.
Ein Festakt eignet sich nicht zur Abrechnung. Gewiss. Nur, wo sonst kann Öffentlichkeit die Kluft zwischen Aufbruch und bleiernem Mittelmaß reflektieren, wie es sich in den Führungseliten Sachsens personifiziert? Demokratische Lebenswirklichkeit statt historischer Allgemeinplätze wäre die bessere Alternative gewesen. Wenn es die von Schulz behauptete permanente Revolution wirklich gibt, dann ist es eben jene des conservative compassion, das gesellschaftliche Solidarität zum Gnadenakt macht für eine weitgehend apolitische Menge. Wie weit dieses Mitgefühl reicht, muss sich noch zeigen. Die Hoffnung auf das alimentierte Wirtschaftswunder erfüllten jedenfalls weder Lohnverzicht noch gesellschaftlich-ökonomische Vernunft der Bürger. Arbeitnehmervertretungen, Gewerkschaften und Sozialdemokratie bleiben bis heute weitgehend marginalisiert. Die Ablehnung des alten Systems wandelte sich oft genug in tiefe Enttäuschung über die neuen Verhältnisse. Das zu ignorieren oder zu verachten, ist Teil des Agreements der Gewandhausbesucher. Obwohl die Einheit in vielem unerreicht ist, wie das Statistische Bundesamt auch ohne Brett vor dem Kopf seit Jahren belegt, ist der ehemalige DDR-Bürger doch Musterschüler in Sachen Revolution und Integration geworden. Die Penetranz, mit der Konservative das Gelingen der friedlichen Revolution vereinnahmen, gründet auf einer gewissen Willfährigkeit der Neunundachtziger-Bewegung. Erlaubt ist diesem siegreichen Konservatismus dann selbstverständlich auch die edle Lüge der Demokratisierung.
Einhundertausend Menschen tragen an jenem Gedenktag schließlich Lichter der Dankbarkeit und Hoffnung durch das abendliche Leipzig. Hier weiß man vermutlich nicht mal, wie im benachbarten Dresden Bürger über viele Jahre an dieser Demokratisierung fast verzweifelt sind; wie machtvolle kreative Willensbildung der Bürgerschaft ins Leere eines rechtsstaatlichen Formalismus läuft. Kein Wunder: Die Möglichkeiten öffentlich-rechtlicher Kommunikation stehen im immer größeren Widerspruch zu ihren selbst gezogenen Grenzen.
Und in der Landeshauptstadt? Von gerade mal dreitausend Menschen auf der Prager Straße war zu hören. Natürlich, Tillich und Orosz hatten gesprochen. Tröstlich: Christof Ziemer hat sich und uns seinen klaren Blick bewahrt; ein wenig Zuversicht also auch hier. Spuren vom Dresdner Erinnern des 8. Oktober sind im virtuellen Nachrichtenniederschlag längst verweht. Jetzt noch vorm Fernseher der 9. November mit internationalen Gästen und vielen Sondersendungen um Schabowski und verwirrte Grenzer. Noch einmal Freudentränen. Später der neue Striezelmarkt. Ein rauschendes Silvesterfest wird dieses Jahr in Dresden beschließen.