Die Menschen sind angekommen
2. November 2009
Johannes Hellmich
über ein Interview mit Stanislaw Tillich
in der SZ vom 31.10.2009
War es eine zufällige Begegnung? Zwei Redakteure der Sächsischen Zeitung trafen im herbstlichen Großen Garten Ministerpräsidenten Tillich. Das sich entwickelnde Gespräch kreiste um Stanislaw Tillichs Visionen für den Freistaat im Jahre 2020. Tillichs schlagfertige Antworten auf nicht gestellte Fragen inspirierten die Redaktion offenbar zu einer ganzen Serie über Sachsens Zukunft. Das verspricht interessante Lektüre. Mit dem Tillich-Interview dürfte das Schlimmste überstanden sein. Dennoch: Eine Rundfahrt mit der Parkeisenbahn ist jedenfalls das bessere Mittel gegen jahreszeitlich bedingte Depressionen. Anfang Dezember geht der Fahrbetrieb weiter. Steigen Sie lieber nicht am Carolaschlösschen aus.
Warum das Jahr 2020? Der Solidarpakt wird dann ausgelaufen sein und Sachsen nach dreißig Jahren in der Wirklichkeit ankommen. Darauf müssen die Bürger vorbereitet werden. Die Sächsische Zeitung gibt der Union Gelegenheit, die Marschroute langfristig festzulegen und damit ihren natürlichen Führungsanspruch für diesen Weg zu formulieren.
Deshalb lohnt es, dieses Interview mehrmals zu lesen. Es zeigt auf erschütternde Weise den Gedankenhorizont eines sächsischen Regierungschefs, der gegenwärtige Defizite und künftige Herausforderungen weder in wirtschaftlichen, demografischen noch in geistig-kulturellen Fragestellungen erkennt. Ratlosigkeit und Absurdes auf die Frage nach der Situation Sachsens im Jahr 2020: Sein entwaffnender Verweis auf vage Chancen des Internets erinnert an längst zerstobene Illusionen einer New Economy. Selbst auf Nachfrage geht Tillich am Thema vorbei. Sollte er bei diesem Treffen am Carolasee tatsächlich unvorbereitet gewesen sein; die Möglichkeit, seine Antworten zu korrigieren, gab es allemal. Dafür sahen, so scheint es, weder die Redakteure noch die Staatskanzlei Grund. Das Interview spiegelt also in besonderer Weise perspektivisches Denken in den Abteilungen Macht und Medien wider.
Umso erschreckender der eng gefasste Freiheitsbegriff, der dem Leser vermittelt wird. Auch hier bleibt Tillich lediglich Vollzugsbeamter jener Kräfte, die ihn ins Amt gehievt haben: Ein saturiertes Bürgertum, dass soziale Abgrenzung besonders durch Exklusivität von Bildung für die eigene Nachkommenschaft sucht, erlaubt eine erst noch zu beweisende Durchlässigkeit des Bildungssystems als Inbegriff persönlicher Freiheit; gleichberechtigt natürlich neben dem wirtschaftsliberalen Mantra, dass sich Leistung wieder lohnen müsse. Die restlichen Einblicke in das banale Innenleben der Macht sind Morgensport, gesunde Ernährung und die Ignoranz gegenüber dem Aushöhlen eines Sonntagsgebots, an das sich die Kirchen gefälligst selbst zu halten hätten.
Trauriges Fazit dieses Herbstspaziergangs: Schulterklopfen, weil nach fast zwanzig Jahren der erste Mann im Lande Sachse ist. Für Tillich ein Beleg, dass die Menschen angekommen sind; ja mehr noch, es mache die Sachsen stolz, dass sie nach zwei Dekaden den Ministerpräsidenten stellen. Immerhin: Aus „unseren Menschen“ der DDR-Oberen sind nun „die“ geworden. Wie lange mag es dauern, bis Bürgern solcherart Infantilität nicht länger unterstellt wird, bis sie für sich selbst sprechen können? Und wie lange, bis sie gehört werden?